Echt, surreal

Ich war in einer Welt, die so gar nicht war wie unsere.

Diese Welt war eigentlich ein Wohnblock. Ein Wohnblock mit (so schien es) unendlich vielen, grauen Stockwerken. Die Betontreppe im Treppenhaus war viel zu steil, um sie angenehm hinauf steigen zu können – einen Aufzug gab es nicht. Auf jedem dieser grauen, komplett fensterlosen Stockwerke gab es nur eine einzige, wer hätt’s gedacht, graue Tür. Diese Türen führten alle in nochmals andere, kleinere Welten.
Wir, die Kinder, liebten unsere Welten. Unsere Welten befanden sich auf den untersten Stockwerken des Blocks und gehörten ganz allein uns. Die Regierungen der übrigen Stockwerke mochten uns nicht. Wieso das so war, wusste niemand. Wir wurden gejagt, eingesperrt und manchmal sogar gefoltert. Menschen, die nicht zur Regierung gehörten, gab es nicht.
Ich und viele andere Kinder wurden in der Welt im obersten Stockwerk, in einer alten, sandigen Höhle mit Gitterstäben, eingesperrt. Wie es dazu kam, weiss ich nicht mehr. Neben mir lag eine schlafende, riesige Schlange und in der mir am weitesten entfernten Ecke des Raums ein Krokodil. Die zwei Raubtiere sollten uns fressen, soviel war uns klar. Nach kurzem Überlegen haben einige von uns die Schlange geschickt am Kopf gepackt und dem Krokodil in den Mund gehalten – es biss ihr den halben Kopf ab. Kein schöner Sieg, aber wir mussten es tun. Ein Problem weniger.

Dann versuchten wir zu fliehen. Irgendwann schafften wir es, uns durch die Gitterstäbe zu quetschen und aus dem Kerker zu entkommen. Wir fingen an zu rennen. Wieso waren hier nirgends Wachen?
Wir mussten die ganze Stadt durchqueren und sahen schon von Weitem eine breite, grau gepflasterte Strasse, umringt von grauen Gebäuden. Nicht, dass der Rest der Welt viel farbenfroher gewesen wäre, aber dieser Abschnitt war besonders trist. Und genau dort mussten wir hin. Diese Strasse gab es auf jedem Stockwerk. Sie galt es zu erreichen, um ins Treppenhaus zu gelangen. Viele Kinder schafften den Versuch, ich aber hatte nicht so viel Glück und wurde von einer blonden Frau mit kurzem, markantem Haarschnitt gefangen. Ich schaute den Kindern, die an mir vorbeirannten, panisch und sehnsüchtig hinterher. Sie brachte mich als Einzige wieder zurück in die Höhle. Wenig später startete ich nochmals einen Fluchtversuch. Sie erwischte mich wiederum, dieses Mal konnte ich sie jedoch in ein Gespräch verwickeln, das sie unaufmerksam machte. In einem passenden Moment befreite ich mich aus ihrem Griff und rannte davon, sie mir dicht auf den Fersen.

Bei jedem Aufprall meiner Füsse auf dem harten Boden meinte ich zu spüren, wie ihre Fingerspitzen mich nur knapp nicht greifen konnten. Ich erreichte das Treppenhaus mit Müh und Not, sie bekam mich immer mal wieder an meinem Kragen oder einem meiner Beine zu fassen. Zum Glück genügte ihre Kraft nie, mich ganz zurückzuhalten. Ich sprang die erste Treppe hinab, schwang mich mehr von Ecke zu Ecke als dass ich auf den Füssen stand. Ich hatte solche Angst, hinzufallen. Dann wäre alles vorbei gewesen. In jedem der oberen Stockwerke bot sich mir das gleiche Bild: Soldaten mit grauen Overalls, grauen Helmen, runtergezogenen, schwarzen Visieren und langen, dicken Schlagstöcken zerrten an Kinderhänden, -köpfen und -beinen, um sie einzusperren. Meine Hetzjagd ging weiter – durch etliche Stockwerke, immer weiter nach unten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich das unterste, mein Stockwerk. Ich schwang mich, als allerletzten Kraftakt, mit meinem ganzen Gewicht gegen die dicke Metalltür, die ächzend aufschwang. Ich hatte es geschafft. Ich lief weiter. Es war kühl, neblig und düster, aber es war meine Welt, hier fühlte ich mich wohl. Ich spürte das Gras unter meinen Schuhsohlen und sah die vertraute Waldlandschaft um mich herum. Der Nebel schmiegte sich an mich, wie ein Schutzmantel. Ich sah niemanden meiner Freunde, die vor mir entkommen konnten, aber ich spürte – sie waren hier. Ich schaute zurück. Die blonde Frau starrte mich auf der Schwelle zu meiner Welt böse an, wagte jedoch keinen Schritt mehr zu tun.

Eine Welt, die so gar nicht war wie unsere – oder eben irgendwie doch?

Autorin: Aline Hafen