Ich denke, dass man sich nie Gedanken um den Tod macht und ihn nicht ernst nimmt. Auch wenn er, in Theorie, omnipräsent ist.
„Rauchen ist tödlich.“
„Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.“
Egal, dies sind ja nur leere Worte. Rauche nicht, bin aber keinen Deut besser. Noch vor drei Monaten vernichtete ich jeden Tag Chips, Süssigkeiten und Süssgetränke, wie ein roter Traktor. Habe mich extrem gebessert, aber bis vor kurzem war es mir völlig egal, ob ich mit 30 Jahren an einem Herzinfarkt sterbe; dafür ass ich in Ruhe einen Familienkübel-Schokocreme.
Viele Menschen hatten nie die Chance, sich von ihren verstorbenen Eltern, Grosseltern, Freund, Freundin, Affäre richtig zu verabschieden. Einen Abschluss zu finden. Das letzte Treffen vor dem Tod ist eigentlich ein Luxus, der in Realität brutal ist. Man sieht dem Tod direkt in die Augen. Man spricht noch einmal mit der Person. Man lacht gemeinsam. Man weint gemeinsam. Man schweigt gemeinsam. Nur schon der Gedanken daran macht mich traurig. Würde bei so einem letzten Treffen sicher Bäche weinen. Wäre eine Qual. Habe das selber noch nie erlebt. Meine Eltern schon. Fragte mich schon dort, wie sich das wohl anfühlen muss. Weinte auch.
Aber egal wie schlimm das letzte Treffen sein mag, es ist sicher befreiend. Sicher ein gutes Gefühl. Im ersten Moment definitiv nicht. Aber nach ein paar Jahren, vielleicht sogar Wochen, merkt man, wie schön und wichtig der letzte Abschied war.
So stelle ich mir das vor.
Wenn man keinen Abschied nehmen kann, ist der Tod immer noch schlimm, aber man sieht ihm nicht mehr direkt in die Augen. Und diese Ungewissheit ist vielleicht noch viel schlimmer. Das jemand von einem Moment auf den anderen, nicht mehr lebt. Das man nicht mehr mit der Person abschliessen kann. Der Tod ist einfach da. Und holt einen eines Tages ein.
So war es auch an diesem Samstag. Ich wurde wieder mit dem Tod konfrontiert, wurde von ihm eingeholt. Diesmal war es der Grossvater einer Kollegin. Er ist schon sehr alt, hat seit Jahren Alzheimer und bekam am Donnerstag eine aggressive Lungenentzündung. Am Samstag wurden seine Medikamente abgesetzt. Meine Kollegin pflegte ihn, zusammen mit der Spitex und einer Paliativmedizinerin, bei ihm zu Hause. Alleine hätte sie ihn nicht pflegen können. Er ist zu gross, zu schwer, zu aggressiv. Am Sonntag setzte meine Kollegin, unter Aufsicht, ihrem Grossvater eine Morphiumspritze. Die zweite Morphiumspritze. Eigentlich ist schon eine Morphiumspritze ein Todesurteil. Zu Beginn ging ich davon aus, dass der Grossvater bald sterben würde. Alle dachten das. Freunde und Familie besuchten ihn noch ein letztes Mal. Sogar aus dem Ausland reisten sie an.
Heute ist Donnerstagabend, mindestens acht Morphiumspritzen wurden gespritzt und er lebt immer noch. Eine Achterbahn der Gefühle. Musste am Samstag, als ich die News das erste Mal gehört hatte, weinen. Machte mich traurig. Telefonierte viel mit der betroffenen Kollegin. Jeden Tag. Je mehr Tage aber vergingen, desto mehr wünschte ich mir, dass es ein Ende findet. Für alle Beteiligten wäre es das Einfachste gewesen.
Meine Kollegin meint, dass er sich weigert zu sterben. Der Kämpferwille ist immer noch da. Zudem wurde er gewalttätiger. Er wurde jetzt ins PUK (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich) verlegt. Lebt immer noch (Stand: 10.Mai). Für meine Kollegin fühlte sich die Verlegung ins PUK noch schlimmer an, weil sie ihn nicht mehr Besuchen und Pflegen konnte/ durfte. Die Kontrolle verloren hat. Sie hat ihn die letzten Tage 24/7 betreut und gepflegt. Kaum geschlafen, Nachteinsätze gehabt, Todesspritzen verteilt, dem Tod jeden Tag in die Augen geschaut. Ich könnte das nicht.
Der Grossvater ist jetzt allein im PUK auf starken Beruhigungsmitteln, bekommt einmal pro Tag Besuch von seiner Frau und kämpft gegen den Tod. Mehr Besuch ist nicht erlaubt. Meine Kollegin durfte ihren Grossvater daher vor der Verlegung ins PUK noch verabschieden. Es fühlte sich wie das letzte Treffen an, obwohl er immer noch gegen den Tod ankämpft. Aber dieser Kampf ist leider einer, den er nie gewinnen wird. Nur herauszögern kann.